Der kleine Georg

Ich lerne Ehud Jungwirth kennen, als ich im Mai 2012 mit meinem Vater und meinem Bruder nach Israel reise. Wir besuchen unsere "Wahlverwandten", die Geschwister Ada Shazar, Veret Gold und Nitzan Milo, deren Mutter Hannah in den dreißiger Jahren aus Wien nach Israel ausgewandert war. Von ihren Großeltern Lizzy und Ernst Schidloff wussten Hannahs Töchter kaum etwas, nur, dass sie am 11. Februar 1943 aus ihrer letzten Wiener Wohnung in der Kolingasse nach Riga deportiert worden waren.

Meine Großtante Helga Mittelberger, geb. Zegner, war "sehr gut" mit dieser Großmutter, Lizzy Schidloff. "Sehr gut", den Ausdruck verwendete sie oft und gern, um eine besonders freundschaftliche Beziehung zu bezeichnen. Bei einem ihrer letzten Besuche gab Lizzy Schidloff meiner Großtante ein Armband zur Verwahrung. Nach mehr als sechzig Jahren, vielen Umwegen und der Beharrlichkeit herzlicher Menschen, fand dieses Armband seinen Weg zurück in die Familie der Geschwister. Das sind sie nun, unsere Wahlverwandten.  

 

Wie immer aber führen Menschen zu anderen Menschen, Geschichten zu anderen Geschichten. Um diese Wahlverwandten zu besuchen und mehr über die Geschichte des Armbands zu erfahren, fuhr ich nach Israel. Als ich zwei Wochen später nach Wien zurückkam, hatte ich mit Ehud Jungwirth einen weiteren Menschen der Emigration kennengelernt, im Gepäck drei getippte Seiten mit dem Titel "Der kleine Georg", einen Stapel seiner Tramwayfahrscheine, von der Nachkriegszeit bis heute und eine Kopie der letzten Fahrscheine, mit denen Ehud (Georg) Jungwirth 1938 in Wien gefahren war.

 

Peter Hoffman, einem der Mittelsmänner in der Geschichte um das Armband lebt als Augenarzt in der israelischen Stadt Rechovot. Er erzählte mir viel von dem Wien seiner Mutter (einer weiteren Freundin meiner Großtante), wir sprachen über Orte und Plätze, Menschen und Lebenswege, Stadtgeschichte und Straßenbahnen. „If you are interested in tramways you have to meet Ehud Jungwirth“, sagte Peter Hoffman und griff zum Telefon. Ehud Jungwirth ist einer seiner Patienten, emigrierter Österreicher, Universitätsprofessor. Im Mai 2012 ist er neunundachtzig Jahre alt.

 

Ich lege die Fahrscheine vor mir auf, es sind sechsundzwanzig. Sie sind alle unterschiedlich. Auf manchen steht die Fahrstrecke: Grinzing-Kahlenberg, es gibt Tagesfahrscheine, Vorverkaufsscheine, 4-Kurzstrecken-Karten, später 3-Tages-Netzkarten, 24-Stunden- und 72-Stunden-Tickets, eine 8-Tage-Karte. Sie sind abgestempelt, gelocht oder eingerissen. Sie sind sandfarben, in einem blassen grün, einem verblassten Rosa, einem etwas stärkeren rostrot, in grellem Grün die letzten, aktuellsten. Die Kürzel des Stempels geben Auskunft über Ehud Jungwirths Aufenthalte in Wien.

 

Als wir bei ihm am Tisch sitzen, setzt er an zu erzählen, von seinem Leben in Israel, als Familienvater und Universitätsprofessor, von den Urlauben in Wien und Österreich, davon, dass sich seine Kinder und Enkel nicht mehr interessieren für seine Geschichten, sie haben sie schon zu oft gehört. Ich habe ein Aufnahmegerät in der Tasche, getraue mich aber nicht, es einzuschalten, lieber höre ich ihm zu und will verinnerlichen, wo ich mich befinde und was ich höre. Seine Erzählungen entbehren jeder Anklage. Er berichtet. Allein die beiläufig erwähnten Stationen seines Lebens lassen erahnen, was war. Wie es war. Als Fünfzehnjähriger kam er nach Palästina, in diversen Jackentaschen ein paar Münzen, ein, zwei und zehn Groschen, und die letzten Fahrscheine. Seine Familie, Mutter und Tante, emigrierten nach England, die Tante später in die USA, die Mutter zog ihm nach, nach Israel.

 

Seine Erzählung über den kleinen Georg hat er datiert: Erstmalig niedergeschrieben: 28.9.2004 – Rechovot, Israel. Titel: Der kleine Georg (dkG) und die Gestapo. Eine unwahrscheinliche aber dennoch wahre Geschichte. Verfasser: Prof. (em.) Dr. Ehud (Georg) Jungwirth.

 

Der kleine Georg emigriert am 22. September 1938 via Triest nach Palästina. Kurz vor der Abfahrt unternimmt er mit seiner Mutter den Versuch, sich von seiner Tante Nelly Schick zu verabschieden, die als Ärztin in der Firmiangasse 31 in Ober St. Veit tätig gewesen und verhaftet worden war. An der Rossauerlände wird ihre Anfrage lachend kommentiert – mit den Worten: "Gehns halt zur Gestapo am Morzinplatz!".

 

Die Mutter wartet im kleinen Park vor dem Gestapohauptquartiert. Georg liest die zwei am Eingang angebrachten Schilder, „Eintritt nur für Arier“ und „Parteienverkehr Montag, Dienstag und Donnerstag 8.30-12.30“. Es ist etwa drei Uhr Nachmittags, an einem Mittwoch. Georg fragt den Mann in der Portiersloge, bekommt ein Formular, wird in den 1. Stock zum Zimmer 102 geschickt. Die Frau im Vorzimmer zeigt auf eine große Tür, Georg klopft, tritt ein, findet sich wieder inmitten zigarrenrauchender Herren rund um einen massiven Schreibtisch, einer der Herren unterschreibt sein Formular, schickt ihn zum Zimmer 317, und wendet sich wieder der Runde  zu. Vom Zimmer 317 geht es ins Zimmer 520, die Stockwerke nach oben. Im Zimmer 517 erhält der kleine Georg eine offizielle Sprecherlaubnis, abgestempelt von der Gestapo: "Kommen’s mit." Steht auf und geht mit dkG einen langen Gang entlang in ein anderes Zimmer. Zimmer voll Akten und einem älteren, weißhaarigen Parteigenossen. Referent: "Servas Karli, hör zu: Dr. Nelly Schick – hamma die Jüdin?" Karli blättert in einem Riesenbuch: "Ja, die hamma". Zurück zum Zimmer 530. Referent zu seiner Sekretärin: "Was glaubn’s soll ma’s dem Judenbub geben?" Sie: zuckt nur die Achseln.

 

Der kleine Georg verlässt das Haus am Morzinplatz, die Mutter hatte ihn schon in Dachau geglaubt, stundenlang war er weggeblieben. An der Rossauerlände das Treffen mit Tante Nelly. Danach: das letzte Mal nach Hause in den sechsten Bezirk, Hirschengasse 7, 1. Stock, Tür 7. Die Wohnung betritt der kleine Georg erst wieder mit fünfundsiebzig Jahren, 1998, genau sechzig Jahre später.

 

Vier Stunden nach dem Besuch an der Rossauerlände muss sich der kleine Georg am Südbahnhof von seiner Mutter verabschieden. Mutter und Tante sieht er neun Jahre später wieder, da ist er fünfundzwanzig.

 

In einer Email, die mir Ehud Jungwirth als Antwort meinen Brief schickt, in dem ich ihm von meinem Vorhaben erzählte, seine Geschichte zu notieren, weiterzuschreiben, weiterzuerzählen, schreibt Ehud Jungwirth: "Ich erinnere mich nicht ob ich es Ihnen erzaehlt habe dass ich zu meinem 15. Geburtstag d.h. 12.3.1938 den "Adolf" geschenkt bekommen habe. Mehr habe ich nicht gebraucht!! Vielleicht gehoert das zur Geschichte meiner "tickets"."

 

Im Herbst 2013 sitze ich an meinem Schreibtisch, vor mir die Wiener Dächer. Ich sehe in die verschiedenen Richtungen, nach Osten Richtung Ober St. Veit, quer durch die Stadt durch die Luft nach Mariahilf in die Hirschengasse, in die andere Richtung, gegen den Donaukanal hin, zum Morzinplatz. Und ich blicke auf die Tramwayfahrscheine vor mir. Und ich denke an Ehud Jungwirth, den kleinen Georg, in seiner Wohnung in Rechovot. 

 

(Jenny Dünser)