Galizien
"Verfallen wie Brody"
"Versunkene Welt"
"Verschwundene Schtetl"
Verfallen, Verschwunden, Versunken sind wohl die häufigsten Attribute in der Beschreibung dieses krummen Buckels der k&k Monarchie. Karl Emil Franzos prägte in seinen Reisebrichten den Begriff "Halb-Asien".
"Galizien liegt in weltverlorener Einsamkeit und ist dennoch nicht abgeschnitten: es hat mehr Kultur als seine mangelhafte Kanalisation vermuten läßt; viel Unordnung und noch mehr Seltsamkeit." (Joseph Roth 1924)
Galizien war ein ethnischer und religiöser Mikrokosmos. Dort lebten Ruthenen, Polen, Juden, Armenier, Rumänen, Zigeuner, Huzulen, Bojken und Lipowaner. Galizien war Armut. Man sprach von Waldmenschen, die nur gelegentlich in den Ortschaften auftauchten, um dann wieder in den ausgedehnten Wäldern zu verschwinden.
Man sprach von Luftmenschen. Sie waren ärmer als arm, man traute ihnen zu, von der Luft leben zu können und wenn sie Handel betrieben, waren es Luftgeschäfte.
Galizien war Transitland. Es zog Flüchtlinge aus Rußland an und spuckte Auswanderer nach Westen. Viele wanderten nach Wien, noch mehr quetschten sich in die billigen Zwischendecks von Atlantikdampfern, um in die USA zu gelangen.
Trotz allem, Galizien war auch ein Mythos. Es wurde in Galizien geschrieben und es wurde über Galizien geschrieben. Wer will kann weiterlesen bei:
Alexander Granach: Da geht ein Mensch
Karl Emil Franzos: Aus Halb-Asien
Joseph Roth: Reise durch Galizien
Manes Sperber: Die Wasseträger Gottes
Bruno Schulz: Die Zimtläden
Iwan Franko: Sturm im Tuchla-Tal
Martin Buber: Chassidische Geschichten
Leopold von Sacher-Masoch: Eine Damenverschwörung
Soma Morgenstern: Buffalo Bill in Tarnopol
Samuel Joseph Agnon: Feuer der Liebe
Stanislaw Lem: Eine Lemberger Kindheitserinnerung
Scholem Alejchem: Krakau und Lemberg
Martin Pollack: Galizien
Börries Kuzmany: Brody, eine galizische Grenzstadt
etc.
Für unsere Fundgeschichten sind die Städte Brody und Buczacz von Interesse. In Brody lebte die Familie unseres Ur-ur-urgroßvaters Jakob Michael Aschkenasy >>weiterlesen aus Buczacz stammte unser Ur-Urgroßvater Naftali Rubin >>weiterlesen, der am 4. April 1843 mit Ettel (Rebekka) Aschkenasy verheiratet wurde. Die Passivform ist angebracht, denn sicher war die Heirat arrangiert und sie war zivilrechtlich nicht anerkannt. Um ihre Kinderschar zu legitimieren, haben Ettel und Naftali 33 Jahre später in Wien ein zweites Mal geheiratet.
Luftmenschen
In den Bildern von Marc Chagall sind Luftmenschen ein wiederkehrendes Motiv. Ein Beispiel dafür ist der über den Dächern von Witebsk schwebende Hausierer. In der späteren zionistischen Bewegung, in der sich auch Rosa Feigenbaum, eine Tochter von Rebekka und Naftali Rubin, sehr stark engagierte, spielte der Begriff des Luftmenschen wieder eine bedeutende Rolle. Beim 5. Zionistischen Kongreß 1901 in Basel sagte Max Nordau, viele Luftmenschen ergäben zusammen ein Luftvolk, deshalb brauche das jüdische Volk endlich eigenen Boden.
Brody
Schon bevor Brody 1772 österreichische Grenzstadt wurde, hatte die Stadt bereits europäische Bedeutung. Als Handelsstadt, aber vor allem als Zentrum der jüdischen Selbstverwaltung in Polen und als Gerichtsort in dem theologische Dispute ausgetragen und entschieden wurden. Als Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit war Brody Städten wie Amsterdam, Hamburg oder Padua ebenbürtig. Um 1870 waren 80% der 20 000 Einwohner Juden.
Mit dem Zerfall des Habsburgerreiches verlor Brody seine Bedeutung endgültig.
Weil die Stadt aber für viele Bücher von Joseph Roth als Vorlage diente, ist Brody ein literarischer Ort geblieben.